Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, analysiert die Ereignisse um Chemnitz: Hier offenbart sich, wie weit das Projekt der rechten Sphäre gekommen ist, die nationalrevolutionäre und die sich bürgerlich gebende Rechte unter dem Banner von Rassismus und Demokratiefeindlichkeit zu vereinen. Nun ist erst recht die Zeit gekommen, für Menschenrechte und Demokratie aktiv zu werden.
Von Anetta Kahane
Nach den rechtsextremen Aufmärschen in Chemnitz, die den Todschlag eines Mannes durch einen Flüchtling für ihre inszenierte „Wut“ missbrauchten, macht sich eine große Ratlosigkeit breit. Viele Engagierte sind verunsichert, manche wanken in ihren Haltungen, einige fragen sich, wie sie unter diesen Umständen weitermachen sollen. Die Rechten träumen derweil vom Umsturz. Sie vereinigen sich mit den waschechten Nazis, schreien ihre Gewaltfantasien lauthals durch die Straßen und die sozialen Medien. Dazwischen irren sogenannte „normale“ oder „besorgte“ Bürger umher, verkünden ihre Ressentiments und Rassismen in jede Kamera und beschuldigen wer-weiß-wen für alles, was ihnen je widerfahren ist. Die Reaktion der Landesregierung ist schwach bis vage, sie zeigt jedenfalls weit mehr Verständnis für jeglichen Rassismus als dass sie deren Betroffene zu schützen bereit ist. So sieht es gerade aus.
Nicht verhandelbar
Über viele Jahre wurde der Boden bereitet für das, was sich jetzt an Gewalt und Hass äußert. Rassismus und Antisemitismus brutal zu übersehen, rechte Strukturen zu ignorieren, Nazis als „unsere Jungs“ zu verharmlosen und alle Demokraten, die daran Anstoß fanden, als linksextrem zu diffamieren, das ist Alltag in dieser Region der Welt. So lange und so sehr, dass heute der Ungeist offen rechtsextremen Denkens und Handelns kaum noch in die Flasche zurückzuholen ist. Da, wo die Norm sich derart verschiebt, erscheinen Aussagen und Forderungen verhandelbar, die es in weniger rechtsextrem aufgeladenen Gegenden unter keinen Umständen wären. Nach den Naziaufmärschen in Chemnitz aber braucht es wieder Klarheit.
An einer Stelle der Stadt haben demokratische Gegendemonstranten eine Barriere aus aufgestellten Exemplaren des Grundgesetzes errichtet. Ein Symbol, gewiss. Dennoch ist das genau das die richtige Antwort. In der Verfassung sind die Grundrechte und die Menschenrechte unter keinen Umständen verhandelbar. Sie alle sind dort klar aufgeschrieben. Daran gibt es keinen Millimeter Abstriche. Gleichwertigkeit jeder Person, grundlegende Würde, Gleichberechtigung, Diskriminierungsverbot – um nur einige zu nennen. Hieran ist nichts zu verhandeln. Jeder Mensch hat Rechte, die von der Verfassung geschützt werden, ob er nun deutscher Staatsbürgerin ist oder nicht. Und dieser Schutz, so wie die Strafverfolgung im Falle einer Straftat, obliegt dem Staat. Niemandem sonst. Rassismus ist nicht hinnehmbar, nicht entschuldbar, nicht nachvollziehbar. Es kann nicht sein, dass Deutsche mit Verweis auf irgendein soziales oder sonstiges Problem, quasi automatisch mit Rassismus reagieren und das auch noch als legitim hingenommen wird.
Das Muster erklärt sich aus den Geschichtsbüchern über die Wahlerfolge der NSdAP 1933. Es hieß, die Arbeitslosigkeit nach der Weltwirtschaftskrise hätte eben die Nazis hervorgebracht. Diese dumme und verkürzte Rechtfertigung wirkt bis in die Gegenwart. In den 1990er Jahren lautete die Argumentation genauso. Damals war es auch die Arbeitslosigkeit, die den Hass auf „Nichtdeutschaussehende“ begründete, dann war es die Globalisierungsangst, dann die Flüchtlinge, dann die Diskussion um Rassismus, dann das „Sachsenbashing“ oder sonst irgendwas. Alles nach dem Motto: „Kein Wunder, wenn dadurch der Hass noch wächst!“ Inzwischen trifft der Hass die Demokratie selbst, ihre Vertreter und alle, die das Grundgesetzt hochhalten oder es als Barriere gegen Nazis auf die Straße stellen. Das ist frustrierend, beängstigend, ein Kampf gegen Windmühlen im Alltag der Initiativen. Doch nicht verhandelbar. Nicht verhandelbar!
Was neu ist
Die Bilder aus Chemnitz haben eines deutlich gemacht: Wir haben es seit diesen Aufmärschen mit einer neuen, vereinigten Rechten zu tun. Das ist neu. Das ist gefährlich. Und das hat eine Vorgeschichte.
Wer genau hingeschaut hat, wie sich die rechtsextreme Szene seit der Wende entwickelte, konnte ihre Spezifik im Osten gut erkennen. Gewiss, es gab auch Neo-Nazis im Westen, die nach der Maueröffnung mit den Ost-Nazis schneller zusammenfanden und die „Einheit vollendeten“, als es die Demokraten je konnten. Dennoch blieb die ostdeutsche Spezifik der Naziszene bestehen. Sie glichen mehr den nationalrevolutionären Bewegungen in Osteuropa als den Wehrsportgruppen irgendwo im tiefen Westen oder gar den Nazi-Opas der alten NPD. Der Geist der Nationalrevolutionäre war und ist nicht eine Sekunde am System orientiert, er will den totalen Umsturz, den nationalen Sozialismus. Diese ostdeutsche Bewegung organisierte sich in Kameradschaften, deren Ziel es war, eine kulturelle Hegemonie in das Nachwendevakuum zu tragen. Ganze Regionen wurden dadurch geprägt, Jugendliche sozialisiert, durch Gewalt Ausländer ferngehalten. Gesellschaft und Staat zeigten sich über ein Jahrzehnt hilflos oder weigerten sich, darin mehr zu sehen als ein Jugendproblem.
Diese informellen Strukturen wurden so erfolgreich, dass die NPD, die Partei der Altnazis und ihrer Kindeskinder, hier eine Chance sah. Die Nationalrevolutionäre im Osten boten ihnen ein Potential und eine Ideologie, wie weit radikaler war als ihre rechtsaußen Ideologie, die sich aber immer noch am Bürgerlichen orientierte. Man trug Hirschhornknöpfe am Lodenmantel und nicht Glatze in Kombination mit Totenkopf, Che Guevara-Shirt und Pali-Tuch. Nachdem sich die alte NPD nach langen Diskussionen entschlossen hatte, mit den Kameradschaften gemeinsam zu Wahlen auf Landes- und Kommunalebene anzutreten, färbte auch dies auf das Bürgerliche ab. Die Furcht vor der Unberechenbarkeit der neuen, radikalen und militanten Kameradschaften ließ nach - und trotz aller Konflikte entstand die Idee einer gemeinsamen rechten Strategie.
Dass die NPD für viele nicht wählbar erschien, änderte nichts am Erfolg der Idee. Während in Westeuropa nach und nach sogenannte Rechtspopulisten den Ton der Debatten prägten und Wahlerfolge hatten, blieb Deutschland vorerst ruhig. Deutschland stand zwischen dem nationalrevolutionären Druck aus Osteuropa und dem bürgerlichen Rechtspopulismus aus Westeuropa. Die NPD war jedoch nicht die Partei, die in Deutschland diese beiden Strömungen hätte zusammenbringen können. Dies ging mit Deutschlands Vorgeschichte nicht. Ebenso wenig konnten andere Parteien diese Rolle spielen. Ja, sie sahen nicht einmal, welche Gefahr auf sie zukam. Keine der demokratischen Parteien war bereit, das Ost-West Problem zu erkennen und anzuerkennen. Der Widerstand gegen eine solche Debatte hält ja bis heute an. Die Warnungen aus der Zivilgesellschaft standen den tagespolitischen Antworten im Wege. Auch wenn viele dieser tagespolitischen Maßnahmen gut und nützlich waren, griffen sie weder analytisch noch praktisch das Ost-West-Thema auf.
Dann erschien die AfD. Ihr Weg von der europakritischen Professorenpartei zur radikalen Sammlungsbewegung für rassistische und flüchtlingsfeindliche Einstellungen war kurz. In nur wenigen Jahren bewegte sie sich nach rechts, überwand Berührungsängste mit Rechtsextremen, ließ ab von strategischen Abgrenzungen gegenüber Pegida um schließlich - wie nun in Chemnitz zu sehen war – übergangslos mit offen rechtsextremen Gruppen zu kooperieren. Das ist ein historischer Moment. In Chemnitz hat sich gezeigt, was wir stets befürchtet haben. Bürgerliche Rechtspopulisten und radikale Nationalrevolutionäre haben zusammengefunden. Das hat auch eine Symbolwirkung für Europa. Hier vereinigen sich jene Kräfte, die zumindest zeitweise kooperieren. Ihr Ziel ist ein illiberales Europa mit allen Implikationen, die das bedeutet. Weniger Demokratie, mehr Kontrolle, weniger Gleichberechtigung, weniger Menschen- und Minderheitenrechte, mehr Homogenität, mehr Identitäres in Kultur und Bildung statt Universalismus und das alles auf einer rassistisch geprägten Grundmelodie. Der Zusammenschluss des aus dem Konservativen hervorgegangenen Rechtspopulismus und des unverhohlenen Rechtsextremismus mit seinem nationalrevolutionären Ursprung ist in der AfD denkbar geworden. Und wurde sichtbar auf den Straßen von Chemnitz.
Was wir beschreiben können
Noch ist diese Entwicklung nicht in der Tagesanalyse angekommen. Wir beschreiben die Situation in Sachen, anhand dessen, was wir täglich beobachten, denn nur so erklärt sich, was nun sichtbar geworden ist. Wir können erzählen, wie alles so geworden ist. Seit der Wende gibt es diese Berichte. Es gab sie sogar schon davor. Und es geht auch noch weiter zurück: dort, wo die Nationalsozialisten als Erstes gewonnen, gejubelt und gebrandschatzt haben, sind auch heute noch die Hochburgen der braunen Gesinnung. Das ist übrigens nicht nur in Sachsen so, sondern überall im Osten. Und wer sich an dieser Stelle aufregt über die Nennung des Ostens, bitte hört auf damit. Es bringt nichts, diesen Umstand zu leugnen. Das Verleugnen, Verdrängen oder gar die Konkurrenz nach dem Motto „im Westen ist es genauso schlimm“ ist Teil des Problems. Der Osten ist anders. Daran ändert weder Lokalpatriotismus etwas noch Volksverräter-Geschrei noch die Herablassung mancher Wessis, die in den Nazis nur eine Art Ostfolklore sehen können oder gar – wie bei vielen Wagenknechtlinken – eine mediengesteuerte Ablenkung von der großen, sozialen Frage. Und die freilich nur für Deutsche. Dass es im Osten mehr Rassismus gibt, ist eine Tatsache und auf die braucht es Antworten und keine Relativierung.
Wir können auch andere Aspekte erklären. Wie beispielsweise die sozialen Medien die Hetze erleichtert haben. Wir können nachweisen, wie die neue Rechte Themen besetzt, geframt und in den Mainstream gepeitscht hat. Wir konnten beobachten, wie hilflos die Medien reagiert haben, wie sehr es zu unser aller Schaden war, dass die Kapazitäten in punkto Recherche in allen Leitmedien zunächst abgebaut worden waren. Das wenigstens ändert sich gerade wieder. Doch was noch schlimmer ist: wir mussten mitansehen, wie in Talkshows und Interviews die Rechten unwidersprochen blieben, wo gezielte, kenntnisreiche, und kluge Nachfragen nötig gewesen wären. Die hohe Kunst der ernsthaften Debatte konnte man im Umgang mit den Rechten bedauerlicherweise nur selten erleben. Dass die Rechte so Interpretations- und Stimmungshoheit gewann, ist eine der Folgen dieser mangelnden Kultur kritischer Streitkultur und Nachfrage.
Verdrängen hat noch nie geholfen
Wir können eines grundsätzlich sagen: Es hat noch nie, nie, niemals geholfen, Probleme oder Traumata zu verdrängen. Gewiss versuchen Menschen immer wieder, ihre Konflikte durch Verdrängung zu lösen. Doch wir wissen aus der Geschichte und der Sozialpsychologie, dass dadurch nur andere aggressive Muster entstehen, dass die Konflikte verschoben werden oder an den falschen Stellen aufbrechen. Aus Verdrängung und Verleugnung entstehen schwere Deformationen. Eines sind die in jedem Fall: eine Flucht aus der Verantwortung. Die ostdeutsche Gesellschaft ist bei allem Respekt für die vielen Ausnahmen in großen Teilen stark von dem infantilen Trieb gesteuert, immer anderen die Schuld für die eigene Situation, für eigenes Handeln oder Versagen zu geben. Wer ist schuld an der Lage in Chemnitz oder anderswo? Die Presse, Frau Merkel, das Sachsenbashing, der Westen insgesamt und natürlich die Flüchtlinge. Nein, eigentlich alle Migranten. Oder noch krasser: die Tatsache, dass es überhaupt Migranten in Sachsen und in Deutschland gibt.
Die aufgebrachten Bürger gehören einer Generation an, die gewiss viel mitgemacht hat, aber es sind nicht die ganz Armen. Es sind die Kleinbürger mit ihrem Sozialneid, mit dem herzlichen Wunsch nach Ruhe und Ordnung, der schon dadurch gestört wird, dass nach 22 Uhr noch Kaffeehauslärm zu hören ist. Die gleiche Wut gilt allen, die sich nicht „anständig“ zu benehmen wissen, umso schlimmer wenn die auch noch eine Hautfarbe haben, die nicht in die Norm dieser Wutbürger passt. Und so lautstark sich diese Leute gegen Pauschalisierung verwahren (übrigens eines der ersten gut gelernten Fremdwörter nach der Wende), so hysterisch verteidigen sie ihr Recht auf Stereotypisierung mit eingeschlossenem Rassismus gegen alle anderen. Nichts tun, nur ein großes „weg damit“, ob nun Frau Merkel gemeint ist oder alle, die wie Migranten aussehen. Sonst nichts. Das ist infantil.
Sachsen ist hier ein ganz besonderer Vorreiter in Sachen Schuldige suchen und Verdrängen, denn bereits Kurt Biedenkopf hatte den Sachsen bescheinigt, dass sie gegen Rechtsextremismus immun seien. Er behauptete das umso hartnäckiger, je häufiger die Realität ihn eines Besseren hätte belehren müssen. Er gab das Muster vor und wer dem in den Jahren danach nicht folgen mochte, hatte kaum eine Chance auf eine politische Karriere im Freistaat. Leugnen, verdrängen und das auf Kosten derer, die Opfer von Rassismus wurden. Mit der DDR-Vorgeschichte wurde ähnlich verfahren. Der Nationalsozialismus und die DDR im Vergleich mündeten in der Formel Braun gleich Rot ohne jeden Kontext. So wurde man gleich beide Menetekel los, die NS-Vorgeschichte in Sachsen und ihre ambivalente Verwandlung im nachfolgenden Sozialismus, der zwar antifaschistisch sein wollte, am Ende aber genau daran scheitern musste. Denn ja, es gab Nazis in der DDR. Integrierte Mitläufer in den Parteistrukturen, einige Verurteilte in den Gefängnissen und dann noch die echten Neonazis in den Jugendclubs, einigen Strukturen wie der GST und die auf der Straße. Sie waren es, die schon zu DDR-Zeiten Ausländer jagten. Soweit es möglich war, sind heute etliche Morde durch Nazis dokumentiert. Immer wieder wunderlich, wie sehr es die Menschen verwunderte, als nach der Wende „plötzlich“ die Nazis überall auftauchten. Nein, verdrängen hilft nicht. Nicht den NS, nicht die DDR, nicht die Wendemythen.
Die DDR mit anderen Mitteln
Machen wir uns nichts vor, die Zahl derjenigen in der DDR, die wirklich antifaschistisch dachten, war denkbar klein. Zu ihnen gehörte die Handvoll Widerstandskämpfer, die aus dem Exil nach Deutschland zurückkamen, um hier den Sozialismus aufzubauen. Es waren nur wenige. Und dann gab es noch diejenigen, die tatsächlich antifaschistisch sozialisiert wurden und guten Herzens an Besserung glaubten. Sie lasen Christa Wolfs Bücher und manche hörten heimlich Biermann. Sie wollten, dass es funktioniert, doch auch hier sahen viele über die Widersprüche hinweg. Der DDR-Gesellschaft, hervorgegangen aus der gleichen schrecklichen deutschen Geschichte, wurde mit Verweis auf den Klassenkampf jegliche Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung erlassen. Verdrängen, verleugnen. Auch hier. Und der Freistaat hat dies bis heute fortgesetzt. Auf dieser Ebene verhält er sich wie die DDR mit anderen Mitteln.
Wir können auch beschreiben, was alles getan wurde, um die zivile Gesellschaft gegen das Unzivile zu stärken. Hunderte Initiativen arbeiten in Sachsen. Wir sind bei ihnen, unterstützen sie, so gut es geht, ermutigen sie, auch von der Landesregierung ausreichend respektiert und gefördert zu werden. Sie alle arbeiten tapfer gegen den Rassismus an, versuchen es mit Begegnung und Aufklärung, mit Projekten in der Jugendarbeit, der Kunst, der allgemeinen Öffentlichkeit und in den Schulen, dem wichtigsten Ort überhaupt. Die Zivilgesellschaft ist gut entwickelt in Sachsen. Aber reicht deren Schwungmasse, um den Diskurs umzusteuern? Reicht ihre Kraft und ihr Einfluss um vor Ort der Verrohung entgegenzuwirken? Was können wir tun, damit wir darauf nicht mit einem traurigen Nein antworten müssen? Es gibt Orte und Gelegenheiten, wo diese engagierten Bürger Erfolg haben. Deswegen werden wir diese Initiativen immer unterstützen. Wir werden mehr über ihre Erfolge berichten, denn in der Tat kommt diese Erzählung auch bei uns zu kurz. Das müssen wir ändern.
Politische Analysen stehen aus
Und es gibt noch andere Dinge, die wir besser ändern, als sie fortlaufend nur zu beschreiben. Und die haben nicht so sehr mit dem Osten zu tun. Hier geht es um zwei Dinge: die Einwanderungspolitik und die Bildungspolitik. Die Einwanderungspolitik ist eine Schande. Deutschland hat es noch immer nicht geschafft, ein vernünftiges Einwanderungsgesetz zu verabschieden. Dass die Stimmung gegen Einwanderer so vergiftet ist, liegt auch daran, dass Einwanderungsfragen mit Flüchtlingsfragen immer vermischt werden. Wenn Politik sich an Stammtischparolen orientiert und findet, dass Flüchtlinge besonders schlecht behandelt werden müssen, weil sie dadurch von der Flucht abgeschreckt würden, führt das dazu, dass nicht nur Flüchtlinge schlecht behandelt werden - und das führt wiederum dazu, das alle schlecht Behandelten zumindest einen weiteren Grund haben, sich auch schlecht zu benehmen. Die Stimmen aus Chemnitz sagen, sie wollen gar keine Ausländer. Dort wird nicht von Flüchtlingen geredet, sondern von allen Menschen, die den Sachsen nicht gefallen. Das ist rassistisch, aber eben auch eine gesamtdeutsche Tradition. Immer wenn Flüchtlinge derart politisch missbraucht werden, geht der Rassismus durch die Decke.
Rassismus darf aber keine Entschuldigung dafür sein, die Probleme der Einwanderungsgesellschaft zu ignorieren. Denn auch das wäre Verdrängung. Die Einwanderungsgesellschaft ist anstrengend. Wir hätten es leichter haben können, wenn einige der Weichenstellungen früher und besser getroffen worden wären. Als die „Gastarbeiter“ blieben und Einwanderung begann, wurde auch aus Gründen der Abwehr nicht genug getan, um sie und ihre Kinder offensiver zu erfolgreichen Bürgern in Deutschland zu machen. Jahrzehnte lavierten die Kultusminister an der Frage herum, ob und wie in die Kinder aus Einwandererfamilien investiert werden soll. Mancherorts ging etwas, an anderen Stellen nicht, aber ein großes Konzept hat gefehlt, weil Einwanderung zwar notwendig, aber nicht gewollt war. Das Diskriminierungsverbot ließ in Deutschland auch sehr, sehr lange auf sich warten. Bis dahin als es 2012 endlich verabschiedet wurde, war der sogenannte Alltagsrassismus längst zu einer Struktur geworden.
Wie kann es sein, dass in Deutschland zugesehen wurde, wie sich hier eine ethnische Schichtung entwickelt? Heute ist sie Realität: die meisten der Armen in Deutschland finden wir in migrantischen Milieus. Und das kumuliert in der Frage der Bildung. Das Schulsystem in Deutschland ist eine Schande. Hier wird viel zu wenig investiert, zu wenig in den Regelbetrieb und noch viel weniger in die soziale Durchlässigkeit. Dass Kinder aus Migrantenfamilien darüber hinaus noch mehr Unterstützung brauchen, ist hier nicht einmal eingerechnet. Kein Kind zurücklassen! Egal welcher Herkunft. Das ist das Motto der Initiative des „Quadratkilometers Bildung“, die es an vielen Orten bereits gibt. Ein Beispiel, wie es gehen kann. Wir wissen doch, wie es geht. Kinder brauchen Ermutigung und gute Schulen, sie brauchen Sprachkenntnisse und einen Blick auf ihre individuellen Bedürfnisse. Dann schaffen sie es, dann blühen sie auf, dann machen sie Abitur und können sozial aufsteigen. Alles keine Zauberei! Aber es muss gewollt werden.
Jugendliche, die nichts zu tun haben, als in ihren Wohnheimen oder auf der Straße abzuhängen, machen die blödesten und mitunter schlimmsten Sachen. Besonders, wenn ie mit den Belastungen einer Fluchterfahrung aus Syrien oder dem Irak kommen. Und ja, viele von ihnen sind von einem Menschenbild geprägt, dass keineswegs von Gleichwertigkeit geprägt ist. Da hilft auch der Hinweis darauf nichts, dass viele Sachsen oder viele Deutsche ebenso wenig die Gleichwertigkeit aller Menschen in ihren Herzen tragen. Das aufzurechnen führt nicht weiter. Besser wäre es, ihnen einen Job oder eine Ausbildung zu geben. Sich kümmern heißt, es anpacken, nicht verharmlosen, in die eine oder andere Richtung. Entweder wir wünschen uns eine Gesellschaft, die den Geist des Grundgesetzes wirklich mit Leben erfüllt, dann muss das für alle gelten. Oder wir fahren darin fort, immer nur weiter zu beschreiben, wie schlimm alles ist.
Was tun?
Was zu tun ist? Wir brauchen eine echte Agenda und nicht nur Erregungszustände. Darin enthalten sein müssen strukturelle politische Forderungen z.B. die nach einem guten Einwanderungsgesetz. Wir brauchen endlich eine Bildungspolitik, die einem Land wie Deutschland auch entspricht und weit besser ist, als das, was wir heute haben. Wir brauchen ein aktives Gegensteuern gegen soziale Undurchlässigkeit in den Bildungssystemen und eine gezielte Förderung von Einwanderern, damit sie selbst ohne Quote mehr als bisher Teil des sichtbaren, öffentlichen Lebens in Deutschland werden. das wäre ein Anfang. Und wenn der Staat nicht handelt, brauchen wir noch mehr Initiative aus der Zivilgesellschaft. Der Staat bewegt sich nur, wenn es hier genug Beispiele gibt und genügend Menschen, die sich einsetzen. Das hat bei den LGBTIQ* auch funktioniert. Gleichzeitig muss Rassismus, Sexismus und Antisemitismus offensiver sanktioniert werden, Ächtung allein ist zu wenig. Das gilt ebenso für alle, egal welcher Herkunft. Denn wer betroffen ist von Ungleichwertigkeitsideologien, ist keineswegs á priori ein guter Mensch. Frauen können ebenso homophob sein wie Schwule Rassisten oder Juden Sexisten oder Muslime behindertenfeindlich. Oder alles anders herum. Die Tatsache, dass jemand einer diskriminierten Minderheit angehört, mag bei den Motiven eine Rolle spielen, nicht aber bei der Bewertung jeder einzelnen Tat.
In all diesen Bereichen sollten wir uns auch verstärkt juristischen Rat holen und gegebenenfalls klagen. Alle Rechtsmittel sollten wir nutzen. Verwaltungsrecht, Strafrecht, Zivilrecht – dafür ist der Rechtsstaat da. Wo Unrecht geschieht, muss das Recht zur Geltung kommen. Dieser Weg wird von den Demokraten noch zu wenig genutzt. Die Erfahrung zeigt, dass es mit diesem Instrument gelingt, eine Beißhemmung von Rechten zu erreichen. Und sie zeigt, dass auch Verwaltungen reagieren, wenn ihnen Fehler oder Fehlverhalten nachgewiesen werden können. Solche Schritte sind mühsam, aber sie sind ebenso wichtig wie der Umgang mit den Medien. Manchmal braucht es die Medien, manchmal einen Anwalt. Und manchmal beides gleichzeitig. Die Wehrhaftigkeit der Demokraten ist längst nicht auf dem Niveau, die der Grad und die Qualität der Auseinandersetzung um die Substanz der Demokratie erfordert.
Auch das ist eine wichtige Forderung, die wir an uns selbst, die Justiz und die Öffentlichkeit stellen sollten. Dazu gehört in jedem Fall der Kontext und die Verhältnismäßigkeit in der Debatte darum. Ein ideologischer Missbrauch lässt sich nur verhindern, wenn wir immer genau sind. Wir können nur überzeugend sein, wenn wir diese Verhältnismäßigkeit selbst leben und uns für sie einsetzen. Und wir müssen unsere Geschichten nach vorne bringen. Die guten Storys, die Erfolgsgeschichten brauchen mehr Platz und wir müssen sie kennen. Denn es gibt sie alle. Mit anderen Worten: statt nur zu beschreiben, sollten wir präziser handeln. Denn alles ist besser als zu verharren. Wir sollten den Drachen zu reiten, als ihn nur von Ferne zu beschreiben und dann nur noch mehr zu fürchten.
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